„Arbeitsmarktpolitisch […] ist das fast ein Glaubenskrieg. Sind die formalen Kompetenzen und die Zertifikate das Wegweisende oder sind die sozialen und fachlichen Kompetenzen, die vielleicht gar nicht zertifiziert sind, das große Thema?“
Daniel Terzenbach
Höre den MachtWas!?! Podcast auf Apple Podcast, Spotify, Google Podcasts, Pocket Casts oder Deezer.
Daniel Terzenbach über Arbeit und die Menschen, die keine haben
Daniel Terzenbach, Mitglied im Vorstand der Bundesagentur für Arbeit, ist im MachtWas!?!-Podcast zu Gast. Daniel Terzenbach erklärt, welche Aufgaben „das Arbeitsamt“ abdeckt und wie es seiner Behörde in der Pandemie gelungen ist, Arbeitsprozesse zu digitalisieren und das größte Callcenter Europas aufzubauen.
Im Podcast spricht Daniel Terzenbach vom Kampfbegriff Hartz IV, Kurzarbeitergeld und den Wegfall von einer halben Million Minijobs durch die Pandemie. Außerdem geht es um das Problem schneller Meinungsbildung und warum „Digitalisierung“ in den Schulen nicht funktioniert hat. Im Podcast erfahrt ihr, warum man nicht zehntausend ehemalige Schlecker-Angestellte zu Pflegerinnen machen kann. Selbstverständlich wirbt Daniel Terzenbach auch für die Arbeitsagentur als Arbeitgeberin: „Also dieser Sinn der Arbeit, der ist bei uns so omnipräsent.“
Warum die Behörde sich eher als Dienstleister versteht
Die Hälfte der rund 100.000 Beschäftigten arbeitet in der Arbeitsagentur in der Arbeitslosenversicherung. Im Ausnahmejahr 2020 sei das Gesamtbudget in diesem Bereich 60 Milliarden Euro gewesen. Daniel Terzenbach schlüsselt auf, wohin dieses Geld verteilt wird und wie es in krisenfreien Jahren aussieht. „In der Arbeitslosenversicherung […] haben wir normalerweise Einnahmen so rund um die 30 bis 35 Milliarden und auch ungefähr solche Ausgaben.“
Im Podcast erläutert Daniel Terzenbach, warum er lieber von einem Dienstleister als einer Behörde spricht, wenn es um die Bundesagentur für Arbeit geht. Ein großer Teil der vielfältigen Aufgaben der Bundesagentur für Arbeit hätten nichts mit dem Auszahlen von Geld zu tun. Sei es die Berufsberatung für Sonderschüler oder angehende Auszubildende oder auch die Drogenberatung.
Die Schere zwischen Arm und Reich wird größer
Auch wenn Daniel Terzenbach den Begriff „Hartz IV“ tunlichst vermeidet, geht er auf das Arbeitslosengeld II ein und macht klar, dass hier marginalisierte Gruppen keinen Anschluss mehr finden. Deshalb müsse man vor allem soziale Arbeit leisten. „Seit der letzten Finanz- und Wirtschaftskrise, also seit 2008/2009, hatten wir permanent Wachstum. Die Wirtschaft hat gebrummt. Die Beschäftigung hat jedes Jahr um 500.000 Menschen zugenommen und trotzdem [hat] ein Teil der Gesellschaft, die bei uns in der Grundsicherung oder Arbeitslosenversicherung waren, nicht partizipiert, die haben davon nicht profitiert.“
Langzeitarbeitslosigkeit würde besonders im öffentlichen Raum wahrgenommen werden. Es sei zunehmend schwieriger Arbeitslosengeld-I-Empfängerinnen wieder in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Daniel Terzenbach erklärt, dass diese Menschen durch alle sozialen Netze fallen. Dabei geht er auch darauf ein, dass einige gute Entwicklungen durch die Pandemie vollkommen zum Erliegen gekommen sind.
„Wir sehen schon, dass es jetzt sichtbar mehr Verlierer gibt als vielleicht durch dieses großenWachstum der letzten zehn Jahre. Wir sehen Corona treibt schon einen Keil und da müssen wir alle gemeinsam hingucken und das auch nicht negieren, dass es so einen Keil gerade gibt.“
Daniel Terzenbach
500.000 Minijobs seien verloren gegangen. Das betrifft Familien, die sich etwas dazuverdienen, aber vor allem Studentinnen und Rentner. „Das sind häufig Rentnerinnen und Rentner, bei denen die Miete so teuer war, dass die Rente das vom Prinzip nicht allein abstottern konnte.“
Man kann nicht von heute auf morgen in einem Pflegeberuf arbeiten
Im Podcast macht Daniel Terzenbach klar, dass man nicht einfach einen ganzen Berufsstand in einen neuen versetzen kann. Es müssen nicht nur die nötigen Qualifikationen, sondern auch Interesse und Leidenschaft bei den Menschen vorhanden sein. Wenn man das ignoriere, habe man innerhalb weniger Monate mehrere umgeschulte Pfleger mit Burnout.
„Ich bin da fast traumatisiert durch die Diskussion damals um Schlecker. Da hatte man diese große bundesweite Insolvenz, das waren fast 25.000 Kolleginnen und Kollegen. Plötzlich sagte man auch aus dem höchsten politischen Raum: ‚Ja, die können doch alle Erzieherinnen und Pflegekräfte werden.‘ […] Man hat suggeriert: Ja den Arbeitsmarkt, da kann man einfach hier welche wegnehmen und dort hinstecken.“
Daniel Terzenbach
Stattdessen solle mehr auf Kernkompetenzen geachtet werden. Aktuell werden in der Versicherungs- und Bankenbranche viele Stellen abgebaut und woanders braucht man Data Scientists. Daniel Terzenbach hebt hervor, dass die Umschulung einer Bankkauffrau zur Data Scientist näherliegt als bisher in der Praxis umgesetzt wird.
Daniel Terzenbach hofft, dass man in Zukunft auf eine Mischung aus Hard und Soft Skills setzt. „Arbeitsmarktpolitisch […] ist das fast ein Glaubenskrieg. Sind die formalen Kompetenzen und die Zertifikate das Wegweisende oder sind die sozialen und fachlichen Kompetenzen, die vielleicht gar nicht zertifiziert sind, das große Thema?“
Corona, Arbeitslosigkeit und Kurzarbeit
Die Mär von Corona als Digitalisierungsbeschleuniger stimme im Fall der Arbeitsagentur. Daniel Terzenbach erklärt, dass viele Prozesse bei der Arbeitsagentur durch einen Pandemiezwang digitalisiert und verbessert wurden. Der Grund, warum das Kurzarbeitergeld so schnell verteilt werden konnte, läge allerdings auch darin, dass eine digitale Infrastruktur schon vorhanden war.
Zu Beginn der Pandemie wurde innerhalb von vier Tagen sämtlicher Kontakt mit den Kunden auf Telefonie und Videotelefonie umgelegt. Daniel Terzenbach verrät, dass das in Retrospektive zwar gut gelaufen sei, man damals aber in ein schwarzes Loch der Ungewissheit geschaut habe. Über 11.000 Mitarbeiterinnen kümmern sich um das Kurzarbeitergeld.
„Wir haben technisch das größte Callcenter Europas gebaut. Innerhalb von drei Tagen. Das war ein Riesending.“
Daniel Terzenbach
Die einheitliche IT sei der entscheidende Faktor für diese Umstrukturierung gewesen. An diesem Punkt sieht Daniel Terzenbach auch Verbesserungspotential an den Schulen. „Wenn man sich die unterschiedlichste Software anguckt – und ich glaube es sind mittlerweile über 70, die in den Schulen zur Anwendung kommen. Da kommen unsere Berufsberater schon gar nicht mehr hinterher, über welche Systeme sie sich bei welcher Schule einschalten sollen.“
Die Zusammenarbeit mit der Politik und ein Ausblick
Aus eigener Erfahrung spricht sich Daniel Terzenbach dafür aus, dass es gut sei, wenn Parteien Konturen haben, sich voneinander unterscheiden und kein Einheitsbrei sind. Einen Austausch gäbe es mit sämtlichen Ministerien, Verbänden und Expertinnen der Parteien. Der Kontakt mit Konservativen, Linken, Liberalen und Grünen sei gleich wertvoll. Weniger Kontakt und Vorschläge erhalte man von der AfD.
„Unser mittleres Management, die haben Standleitungen miteinander. Und das ist dann auch das Arbeitsministerium, das Gesundheitsministerium, das Kanzleramt, das Bildungsministerium, […] zu den Arbeitgeberverbänden, zu den Arbeitnehmerverbänden, die Gewerkschaften. Da gibt’s dann wirklich engen Austausch.“
Daniel Terzenbach
Deutschland wird in Zukunft Fachkräfte aus Europa und der Welt brauchen. Durch die Digitalisierung werden 1,5 Millionen Stellen wegfallen und genauso viele werden dazu kommen. Dazu kommt, dass der Babyboomer-Generation peu à peu in die Rente und Pension verschwindet. „Wir werden jedes Jahr 100.000 bis 150.000 weniger Menschen am Arbeitsmarkt haben als wir brauchen.“
Daniel Terzenbach setzt viel Hoffnung in das neue Einwanderungsgesetz. Mit den Philippinen, Indonesien und Mexiko sei man in Gesprächen um Fachkräfte wie Ärzte abzuwerben. Daniel Terzenbach macht klar, dass dadurch Arbeitsplätze geschaffen und nicht „weggenommen“ würden.
Zum Schluss geht es noch um die Zukunft der Menschen, die kein Interesse an Software und IT haben. Daniel Terzenbach glaubt, dass viele noch gar nicht wissen würden, wie vielfältig die MINT-Berufsfelder sind. Er geht mit gutem Beispiel voran: „Ich versuche gerade Python zu lernen, um allein ein Gefühl dafür zu kriegen, was bedeutet Digitalisierung. Auch Menschen aus der Verwaltung können, wenn sie wollen.“
Zitate:
00:06:09 „Die Bundesagentur für Arbeit ist die größte Sozialbehörde Europas.“
00:09:20 „In der Arbeitslosenversicherung […] haben wir normalerweise Einnahmen so rund um die 30 bis 35 Milliarden und auch ungefähr solche Ausgaben.“
00:14:39 „Seit der letzten Finanz- und Wirtschaftskrise, also seit 2008/2009, hatten wir permanent Wachstum. Die Wirtschaft hat gebrummt. Die Beschäftigung hat jedes Jahr um 500.000 Menschen zugenommen und trotzdem [hat] ein Teil der Gesellschaft, die bei uns in der Grundsicherung oder Arbeitslosenversicherung waren, nicht partizipiert, die haben davon nicht profitiert.“
00:17:29 „Wir sehen schon, dass es jetzt sichtbar mehr Verlierer gibt als vielleicht durch diesen großen Wachstum der letzten zehn Jahre. Wir sehen Corona treibt schon einen Keil und da müssen wir alle gemeinsam hingucken und das auch nicht negieren, dass es so einen Keil gerade gibt.“
00:20:55 „Das sind häufig Rentnerinnen und Rentner, bei denen die Miete so teuer war, dass die Rente das vom Prinzip nicht allein abstottern konnte.“
00:24:09 „Das heißt, dass sich der ganze Beruf vom Einzelhandel nochmal neu justieren wird. Und ich glaube kein Anbieter im Einzelhandel wird jetzt zukünftig darauf verzichten eine Onlinepräsenz zu haben.“
00:25:32 „Ich bin da fast traumatisiert durch die Diskussion damals um Schlecker. Da hatte man diese große bundesweite Insolvenz, das waren fast 25.000 Kolleginnen und Kollegen. Plötzlich sagte man auch aus dem höchsten politischen Raum: ‚Ja, die können doch alle Erzieherinnen und Pflegekräfte werden.‘ […] Man hat suggeriert: Ja den Arbeitsmarkt, da kann man einfach hier welche wegnehmen und dort hinstecken.“
00:27:59 „Arbeitsmarktpolitisch […] ist das fast ein Glaubenskrieg. Sind die formalen Kompetenzen und die Zertifikate das Wegweisende oder sind die sozialen und fachlichen Kompetenzen, die vielleicht gar nicht zertifiziert sind, das große Thema?“
00:33:37 „Innovation darf nicht irgend so eine Randerscheinung in einem Unternehmen sein. Das muss wahrscheinlich zukünftig noch stärker der Nukleus der Organisation sein.“
00:37:33 „Also dieser Sinn der Arbeit, der ist bei uns so omnipräsent.“
00:41:44 „Wir haben technisch das größte Callcenter Europas gebaut. Innerhalb von drei Tagen. Das war ein Riesending.“
00:44:47 „Wenn man sich die unterschiedlichste Software anguckt – und ich glaube es sind mittlerweile über 70, die in den Schulen zur Anwendung kommen. Da kommen unsere Berufsberater schon gar nicht mehr hinterher, über welche Systeme sie sich bei welcher Schule einschalten sollen.“
00:54:12 „Mit allen Farben aller Parteien, die sich an uns gewandt hatten, die irgendwelche Ideen hatten für den Arbeitsmarkt, da haben wir immer wieder ganz schnell Abwägungsprozesse gemacht.“
00:57:26 „Unser mittleres Management, die haben Standleitungen miteinander. Und das ist dann auch das Arbeitsministerium, das Gesundheitsministerium, das Kanzleramt, das Bildungsministerium, […] zu den Arbeitgeberverbänden, zu den Arbeitnehmerverbänden, die Gewerkschaften. Da gibt’s dann wirklich engen Austausch.“
01:06:49 „Die Trends, die sich vor Corona sich haben, die sind jetzt beschleunigt worden.“
01:09:00 „Wir werden jedes Jahr 100.000 bis 150.000 weniger Menschen am Arbeitsmarkt haben als wir brauchen.“
01:15:14 „Ich versuche gerade Python zu lernen, um allein ein Gefühl dafür zu kriegen, was bedeutet Digitalisierung. Auch Menschen aus der Verwaltung können, wenn sie wollen.“